Phrasen auf ihren Sinn abgedroschen: „Früher war alles besser“

Foto: Wth

In letzter Zeit höre ich mal wieder öfter den Satz: „Früher war alles besser!“ Und zwar nicht nur von alten Leuten, sondern auch öfter mal von Gleichaltrigen oder noch jüngeren Menschen. Früher hörte man das immer nur von der Großelterngeneration oder in den 90ern auch mal von ehemaligen DDR-Bürgern.

Dieser Satz war aber übrigens schon immer Quatsch. „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat“, sagte schon Voltaire. Oder anders: „Erinnerungen sind nichts anderes als die Neukonstruktion der Vergangenheit“ (Matthias Brodowy). Oder wie meine Oma immer sagte, „man erinnert sich immer nur an das Gute, das Schlechte vergisst man“.

Wer wollte wirklich vor hundert Jahren leben? Oder im Mittelalter oder zur Zeit der Inquisition?

Neandertal?

Altes Griechenland, wegen der Demokratie? Frauen hatten da nichts zu sagen, von den Sklaven mal ganz abgesehen.

Die 60er oder 70er?

Mein Vater sprach von „jungen Leuten“ (er war Mitte Zwanzig) als Hippies, Gammler und Rockern, mein Opa erzählte von „Negermusik“ und sprach von „Hottentotten“. Begriffe wie „Haschisch“ und „Kommune“ fielen voller Ekel. Im Fernsehen sah man den steinalten Adenauer mit Hut. Oder Leute, die Kiesinger oder Ehrhardt hießen.

Frauen durften damals (übrigens noch bis ’77) nur mit Zustimmung des Mannes berufstätig sein. Ich erinnere mich an den Streit zwischen meinen Eltern, als meine Mutter wieder als Krankenschwester arbeiten wollte. Sie setzte sich durch, aber viele andere Frauen nicht. Auf die Ausbildung junger Frauen wurde kein Wert gelegt, bei meiner Schwester reichte selbstverständig die Mittelschule („die heiratet ja doch!“). Frauen gingen in Kleid und Rock. Wer Hosen trug war Kommunistin oder wenigstens (linke) Studentin. In meinen Schulfibeln waren Hans und Suse die Protagonisten. Hans war pfiffig, Suse so brav, dass neben ihr Pippi Langstrumpf fast als Terroristin gelten dürfte.

Uneheliche Kinder hießen „Bastard“. Es gab sie übrigens auch in meinem Umkreis. Sie seien ein schlechter Umgang, meinten meine Großeltern aus Burgdorf. Erst Mitte 1998 wurden eheliche und uneheliche Kinder vor dem Gesetz gleichgestellt!!!

Scheidung? Gab es. Aber selten. Das alte Scheidungsgesetz machte es Frauen quasi unmöglich, aus einer Ehe auszubrechen.

Gewalt? Die war tief im Alltagsleben verwurzelt. Schüler und Lehrlinge durften geohrfeigt werden. Die Tracht Prügel waren anerkanntes Erziehungsmittel. Als ich 1970 mit dem ersten schlechten Zeugnis nach Hause kam, bekam ich es mit einem Teppichklopfer. Männer schlugen ihre Frauen ganz selbstverständlich.

Männer trugen kurzes Haar. Ohrringe? Pfff! Mit 15 hatte ich schulterlange Haare. Meine Mutter schickte mir vor den Osterferien einen Brief, dem ein Foto von mir mit (relativ) kurzen Haaren beilag. Ich solle mir die Haare auf diese Länge kürzen, bevor ich in den Ferien heimkäme. Ich teilte ihr mit, dass meine Haare so blieben. Wenn es ihr nicht passe, führe ich in den Ferien zu einem Freund, es sei bereits alles geregelt. – Sie gab auf.

Sex vor der Ehe? Gab es nicht. Nach der Pensionierung übrigens auch nicht. Homosexualität war strafbar.

Das waren die 68-er und die Zeit davor (und auch noch eine Weile danach).

Lasst uns im Jahr 2023 bleiben. Es ist zwar wirklich vieles nicht so gut heutzutage. Aber immer noch besser.

Thorsten Windus-Dörr

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