Leben wir in einer polarisierten Gesellschaft?

Die deutsche Gesellschaft gilt als zunehmend polarisiert, gespalten gar, so erscheint es einem regelmäßig in den sozialen Medien und täglichen Nachrichten. Der öffentliche Diskurs scheint teilweise zu erodieren, Debatten werden bissiger. Eine repräsentative Studie der Bertelsmann Stiftung ist dem auf den Grund gegangen. Sie zeichnet ein positiveres Bild unserer Gesellschaft, als es einem beim alltäglichen Medienkonsum zuerst erscheinen mag: geeint in gemeinsamen Werten, bloß uneins, wie sie dahin kommen soll.  

Eine geeinte Gesellschaft? – Überprüfung mit einer Studie

Das Team unter der Leitung von Dr. Yasemin El-Menouar und Dr. Kai Unzicker nahm für die Untersuchung die regelmäßig den öffentlichen Diskurs beherrschenden Themen von Klimawandel, Vielfalt und Gerechtigkeit in der Gesellschaft in den Blick. Ziel war es, herauszufinden, inwieweit bei diesen zentralen Fragen die Gesellschaft tatsächlich auseinanderdriftet. Im November 2020 wurden infolgedessen 1012 Personen über 18 Jahren vom Norstat Institut als repräsentativer Querschnitt der deutschen Bevölkerung befragt. Um verschiedene Positionen in der Gesellschaft greifbar zu machen, griffen die Forscher auf eine bereits existierende und erprobte Einteilung der Gesellschaft in sieben Wertemilieus zurück.

Die sieben Wertemilieus

Entwickelt und erprobt in der Studie „Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl“ dient die Einteilung in Wertemilieus zur Beschreibung der gesellschaftlichen Wertepluralität. Die gebildeten Milieus sind:

  1. Kreative Idealisten,
  2. Bescheidene Humanisten,
  3. Individualistische Materialisten,
  4. Unbeschwerte Beziehungsmenschen,
  5. Sicherheitsorientierte Konservative,
  6. Leistungsorientierte Macher,
  7. Unkonventionelle Selbstverwirklicher
Quelle: Bertelsmann Stiftung: https://blog.vielfaltleben.de/2021/02/26/wo-kommen-eigentlich-die-wertemilieus-her/ [Einsicht: 17.08.21]

Die Milieus wurden dabei aus einem Zusammenschluss der der Konfliktachsen des Psychologen Shalom H. Schwarz, „Offenheit für Wandel“ vs. „Bewahrung des Bestehenden“ und „Selbststärkung“ vs. „Selbstüberwindung“ mit dem Konzept der „Big Five“ Persönlichkeitseigenschaften gebildet. Sie zeichnen sich durch Personen mit möglichst ähnlichen Werten aus, die sich möglichst stark von den anderen Milieus abgrenzen lassen.

Alter, Parteipräferenz und sozioökonomische Merkmale sind nicht in die Einteilung der Milieus mit eingeflossen, sondern wurden im Nachhinein den Wertemilieus zugeordnet, um sie anschaulicher zu gestalten. Die Charakterisierungen der Wertemilieus sind dabei nicht absolut, beispielsweise ist jede Altersgruppe zu einem gewissen Grad in jedem Milieu vertreten. Nur sind einige Altersgruppen gleich auf alle Milieus verteilt, sodass keines von ihnen sich durch diese Altersgruppen beschreiben lässt.

Was wurde gefunden

Doch zum eigentlichen Teil der Studie, den Ergebnissen. Durch die drei verschiedenen Themen zieht sich dabei hindurch, dass sich die Angehörigen der meisten Wertemilieus einig über die grundlegende Ausrichtung sind. So geben 72 Prozent an, für die Bewältigung des Klimawandels mit tiefgreifenden sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen zu rechnen, Vielfalt als solche wird sogar nur von zwei Prozent der Befragten abgelehnt. Auch im Thema Gerechtigkeit stoßen das vorherrschende Leistungsprinzip, wer mehr leistet verdient mehr, sowie das Bedarfsprinzip, die Gesellschaft kümmert sich um Bedürftige, auf hohe Zustimmung von über 80 Prozent.

Allerdings ist es dann doch nicht so einfach. Je weiter sich die Themen konkreten Policy Forderungen annähern, desto deutlich werden die Unterschiede zwischen den verschiedenen Wertemilieus. Beim Klimaschutz gehen die Meinungen beispielsweise auseinander, sobald es um die Frage geht, inwieweit technischer Fortschritt uns helfen wird. Dies wird mit 42 Prozent insbesondere von den Leistungsorientierten am positivsten bewertet, die anderen Milieus fallen, teilweise deutlich, dahinter zurück. Auch beim Thema Vielfalt finden sich solche die Unterschiede leicht, hier bereits in die Frage der genauen Definition des Gegenstandes. Dieser wird durch die Milieus verschieden verstanden, von einer weiten Auslegung des im Grundgesetz festgelegten Rahmens, bis hin zum Verständnis einer engen deutschen Leitkultur bei den Materialisten.

Zuletzt erfasste die Studie auch noch einige Selbsteinschätzungen der Befragten zur Polarisation des öffentlichen, wie auch privaten, Diskurs‘. Während zwei Drittel angaben, dass die öffentliche Debatte in den letzten Jahren respektloser geworden ist, denkt dies nur eine Minderheit über das private Umfeld. Lediglich das Milieu der Materialisten sieht sich gesellschaftlich als Außenseiter, seine Angehörigen geben an, auch im Privatem mehr Widerspruch zu erfahren. Doch woher kommt diese Annahme der Materialisten?

Die Materialisten – ein Milieu grenzt sich ab

Die Materialsten sind das kleinste der Wertemilieus, sie machen lediglich rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Doch ihre Positionen stechen regelmäßig aus denen der anderen Wertemilieus hervor. Beim Klimawandel sind sie nicht nur das Milieu, das gesellschaftlichem Wandel am wenigsten zustimmt, gleichzeitig ist in dem Milieu die Vorstellung am ausgeprägtesten, dass der Klimawandel ein natürliches Phänomen sei. 39 Prozent geben an, die Natur regeneriere sich von selbst. Am deutlichsten wird der Widerspruch zu den anderen Milieus am Beispiel der Haltung zum Kopftuch. Bei den Materialisten findet sich mit 63 Prozent eine breite Ablehnung des Kopftuches. Die sechs restlichen Milieus finden sich hingegen alle bei Ablehnungswerten zwischen lediglich 20 und 30 Prozent. Dies spiegelt sich ebenfalls in der Zustimmung zum Kopftuch wider, den sechs Prozent Zustimmung der Materialisten folgen als zweitniedrigster Wert die Leistungsorientierten, mit bereits über 20 Prozent.

Welche Erkenntnisse können wir daraus ziehen?

Wer eine klare, lineare Antwort lesen möchte, ist in sozialwissenschaftlichen Studien generell falsch, so auch hier. Polarisierung: Ja / Nein? – Die Antwort ist doch komplizierter. Oder, wenn man im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bleiben wollte: man muss es differenzierter betrachten. Ein Fazit der Studie ist aber in jedem Fall, dass die These einer Polarisierung der Gesellschaft in zwei Lager zu kurz greift.

Es wird debattiert und gestritten, selbstverständlich. Und auch sind wir uns in der Bevölkerung nicht immer einig. Aber es geht dabei nicht um fundamentale Werte und Richtungsentscheidungen, sondern wie wir diese erreichen und umsetzen. Es fehlt die oft angenommene feste Konfliktlinie in der Gesellschaft. Es streitet mal jeder mit und gegen jeden, ganz nach Thema.

Bloß die Materialisten fallen aus dem gesellschaftlichen Schema heraus. Sie widersprechen regelmäßig den Ansichten der übrigen Milieus und auch in privaten Debatten fühlen sie sich oft als Außenseiter. Dabei sind sie lediglich eine (laute) Minderheit. Begünstigt durch die mediale Inszenierung kommt so leicht das Gefühl auf, wir lebten in einer polarisierten Gesellschaft. Dabei streiten wir eigentlich alle auf einem ähnlichen Wertefundament.

Matteo Stieß


Quelle: El-Menouar, Yasemin & Unzicker, Kai (2021): Klimawandel, Vielfalt, GerechtigkeitWie Werthaltungen unsere Einstellungen zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen bestimmen, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/projektnachrichten/studie-wertehaltungen-zu-gesellschaftlichen-zukunftsfragen

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